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Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien 2019 an Stefanie Höfler und Bettina Wilpert

Die Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien 2019 gingen an Stefanie Höfler für ihren Roman Der große schwarze Vogel (Beltz & Gelberg) und an Bettina Wilpert für ihr Debüt nichts, was uns passiert (Verbrecher Verlag). Beide Autorinnen erhielten ein jeweils sechsmonatiges Stipendium in Höhe von 12.000 Euro. Die Auszeichnung wird vom Deutschen Literaturfonds in Kooperation mit dem Arbeitskreis für Jugendliteratur vergeben, die Übergabe erfolgte am 21. März 2019, um 14.00 Uhr, im Saal 1 des Congress Centers auf der Leipziger Buchmesse.

Mitglieder der Jury waren Dr. Michael Schmitt (3sat/Kulturzeit), Ralf Schweikart (Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur) und Prof. Dr. Jan Standke (Vorsitzender der Kritikerjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis).

Stefanie Höfler für Der große schwarze Vogel

Stefanie Höfler, geboren 1978, studierte Germanistik, Anglistik und Skandinavistik in Freiburg und Dundee/Schottland. Sie arbeitet als Lehrerin und Theaterpädagogin und lebt mit ihrer Familie in einem kleinen Ort im Schwarzwald. Zuvor erschienen von ihr die Romane Mein Sommer mit Mucks sowie Tanz der Tiefseequalle (Beltz & Gelberg), die beide für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert wurden.

Begründung der Jury

Wenn ein Roman sowohl von der Kritiker- als auch der Jugendjury auf die Nominierungsliste des Deutschen Jugendliteraturpreises gewählt worden ist, dann wird sich auch die Jury, die der Verfasserin dieses Buches eines der beiden diesjährigen Kranichsteiner Jugendliteraturstipendien zugesprochen hat, nicht geirrt haben. Denn Lob, Ehre und Förderung sind etwas anderes als Ämterhäufung. Wenn zudem schon die beiden vorangegangenen Bücher der Schriftstellerin begeistert aufgenommen worden sind – der Kinderroman Mein Sommer mit Mucks, mit dem sie debütiert hat, und der Jugendroman Der Tanz der Tiefseequalle, für den sie mit dem Luchs des Jahres 2017 belohnt worden ist –, dann darf man sich dessen sogar ziemlich sicher sein. Aber das entbindet eine Jury nicht von der Pflicht, gute Gründe für die getroffene Entscheidung anzuführen.

Stefanie Höflers Roman Der große schwarze Vogel macht das leicht: Er belegt, dass die Schriftstellerin von Buch zu Buch ihre erzählerischen Mittel neu erfindet, dass Form und Inhalt in ihrem Werk untrennbar zusammengehören. Wo im Roman Tanz der Tiefseequalle zwei Stimmen einander abwechseln und in dieser Pendelbewegung die Handlung vorantreiben, da übernimmt in Der große schwarze Vogel die Perspektive des 14-jährigen Ben als Ich-Erzähler die zentrale Aufgabe, vom Tod der Mutter und von den Erschütterungen der Hinterbliebenen, des Vaters und der beiden Söhne, zu erzählen.

Aber dieser zentrale Strang wird von raffiniert gesetzten Einschüben zur Vorgeschichte und zum Leben nach der Trauerphase unterbrochen und zugleich kommentiert. Im Roman entsteht so ein Resonanzraum, der weit über das unmittelbare Geschehen ausgreift, der das familiäre Umfeld, die Freunde des jungen Ben und – ganz wichtig – das weite Feld von Natur, von Kunst und Literatur einbezieht und zum Klingen bringt: Die Natur, weil die agile Mutter, die ganz überraschend in jungen Jahren gestorben ist, nur draußen, im Freien, zu Lebzeiten Ruhe finden konnte, während sie als Bühnenbildnerin und als Energiezentrum der Familie ständig unter Strom stand. Die Kunst, weil die Mutter als Theatermensch emotional und impulsiv gewesen ist, weil das Spontane und Ungewöhnliche ihr Metier waren, weil die Musik ihr wichtig und die Stimme von Billy Holliday ihr eine Stimulanz waren. Die Literatur, wenn Ben in der Schule die Gedichte von Rose Ausländer lesen muss, aus diesen „knappen und klaren“ Versen dann aber auch eine Haltung für die Schilderung der schwierigen Wochen und Monate ableiten kann, um die es in diesem ebenfalls knappen und klaren Roman geht.

Der große schwarze Vogel ist ein Buch über das Trauern und Abschiednehmen, aber es ist auch eine Geschichte über das Dableiben, also eine Geschichte voller Hoffnung. Stefanie Höfler erfindet dafür prägnante, oft unscheinbare Szenen und Bilder, die Gefühle in Handlung umsetzen, statt sie zu erklären. Sie lässt die Söhne der Verstorbenen deren Sarg vor der Einäscherung knallbunt anstreichen, sie lässt Luftballons hinter der Friedhofsmauer steigen, während die Trauergesellschaft am Grab steht. Sie gibt dem Roman einen Titel, in dem ein Lied von Ludwig Hirsch anklingt, ebenso melancholisch wie ironisch. Und sie stellt dem 14-jährigen Jungen, der anfangs nicht weiß, wie, wo und wem er sein Leid klagen kann, Menschen an die Seite, die anders mit Trauer umgehen als er. Etwa den kleinen Bruder, der in aktiven Ritualen von der Mutter Abschied nimmt. Oder eine Schulkameradin und Freundin, deren Trauer um ihren seit Monaten im Koma liegenden Bruder für Ben zum Spiegel seiner eigenen Gefühle und seines Verhaltens wird. Stefanie Höfler lässt ihm sogar immer wieder mal das Bild seiner Mutter erscheinen, damit er im Gespräch mit ihr bleiben kann, solange, bis er versteht – mehr noch: bis er spürt –, dass sie wirklich gegangen ist, dass es aber auch ein Leben ohne sie wird geben können.

Begründung der Jury, der Ralf Schweikart, Prof. Dr. Jan Standke und Dr. Michael Schmitt angehören

Bettina Wilpert für Nichts, was uns passiert

Bettina Wilpert, geboren 1989, studierte Kulturwissenschaft, Anglistik und Literarisches Schreiben in Potsdam, Berlin und Leipzig. nichts, was uns passiert ist ihr Debütroman, für den sie bereits mit dem ZDF-„aspekte”-Literaturpreis für das beste literarische Debüt des Jahres 2018 ausgezeichnet wurde. Sie arbeitet als Trainerin für Deutsch als Fremdsprache und lebt in Leipzig.

Begründung der Jury

In Bettina Wilperts Roman Nichts, was uns passiert bleibt den Protagonisten dagegen eine Erschütterung, von der sie sich womöglich nie mehr erholen werden. Auch dieser Roman über eine zerstörerische Affäre im jungen studentischen Milieu der Stadt Leipzig ist im Herbst des vergangenen Jahres und im frühen Frühjahr schon mit Preisen bedacht worden, mit dem „aspekte“-Preis etwa für ein literarisches Debüt und mit dem Förderpreis zum Lessing-Preis. Sie gelten einem Roman, von dem auch starke literarische Impulse für Erzählweisen in Büchern für junge Leser ausgehen könnten, denn auch in Bettina Wilperts Buch sind Form und Inhalt nicht voneinander zu trennen.

In einer jüngst erschienenen Anthologie, Freie Stücke. Geschichten über Macht, Gewalt und Selbstbestimmung, die Sonja Eismann herausgegeben hat, findet sich auch eine von Bettina Wilpert beigesteuerte Kurzgeschichte mit dem Titel Eine Liste. Das ist sozusagen ein Alphabet der Liebe, besser der sexuellen Beziehungen einer jungen Frau, die über erste Küsse, flüchtigen Sex und vielfältigste Männer- und Frauenbekanntschaften Rechenschaft gibt. Scheinbar nüchtern, irgendwie trostlos, irgendwie desillusioniert und desillusionierend. Eine Geschichte über Unrast, könnte man vermuten, auch über Ängste, ganz sicher über kleine Exzesse unter Alkoholeinfluss und mit Körpersäften – und darin steckt in Pillenform schon manches von dem, was sie in ihrem Debüt-Roman ausgearbeitet hat: Die Geschichte einer möglicherweise vorgefallenen Vergewaltigung, eine Geschichte darüber, wie es zu einer Situation kommen konnte, über die zwei Menschen anschließend komplett unterschiedliche Meinungen vertreten. Ein Vorfall, der eine Anzeige und Ermittlungen nach sich zieht, an deren Ende jedoch keine juristisch eindeutigen Erkenntnisse über Schuld und Unschuld stehen. Und dennoch ist die soziale Existenz von zwei Menschen schwer erschüttert.
Der Punkt, um den sich alles dreht, ist die Nacht nach einer Party, bei der die beiden Protagonisten, der Doktorand Jonas und die Studentin Anna, alleine in einem Zimmer landen, wo es zum Geschlechtsverkehr kommt, den der junge Mann als einvernehmlich, die junge Frau im Nachhinein aber als Vergewaltigung bezeichnet. Es gibt keine Zeugen für das, was vorgefallen ist. Aussage steht gegen Aussage. Polizeiliche Verhöre und staatsanwaltliche Ermittlungen führen nur zur Niederschlagung des Verfahrens. Das ist kein Freispruch, aber auch kein Nachweis für ein Vergehen des jungen Mannes. Und genau darum kreist das Buch in Gestalt des Protokolls einer weitgespannten Recherche, die eine nicht genau fassbare Erzähler-Figur, die ab und an als fragendes „Ich“ auftaucht, unter den Beteiligten, aber auch in deren weiterem Freundes- und Bekanntenkreis anstellt. Nichts, was uns passiert packt die Fassungslosigkeit der Betroffenen in die nüchternen Sätze, die bleiben, wenn Aussagen aufgenommen und auf den ersten Blick kommentarlos gegeneinandergesetzt werden. Wenn mal aus Annas, mal aus Jonas’ Perspektive berichtet wird, wenn mal Freunde des einen oder Mitbewohner der anderen zu Wort kommen, fast immer irritiert von dem, was geschehen sein könnte, mal mehr auf der Seite von Anna, mal auf der von Jonas.

Bettina Wilpert lässt den Leser mit dieser Fülle sich widersprechender Aussagen und Blickwinkel alleine und gestattet kontroverse Lesarten. In diesem Buch gibt es nichts zu lernen, aber viel zu bedenken. Leserinnen und Leser müssen sich ganz persönlich zu den Charakteren verhalten, sie können bewundern, wie souverän der Roman Festlegungen vermeidet; sie können aber mit gleichem Recht auch herauslesen, was im Buch z.B. von einer Selbsthilfegruppe vertreten wird: Wenn eine Frau von Vergewaltigung spricht, dann ist das auch passiert. Leserinnen und Leser müssen so nicht zuletzt über sich selbst Rechenschaft ablegen und sich fragen, warum sie welche Lesart bevorzugen. Vor dem Zeithintergrund aktueller MeToo-Debatten verleiht das dem Roman seine Brisanz. Darin steckt eine erhebliche Sprengkraft – und dafür gebührt Bettina Wilpert das zweite der diesjährigen Kranichsteiner Jugendliteraturstipendien.

Begründung der Jury, der Ralf Schweikart, Prof. Dr. Jan Standke und Dr. Michael Schmitt angehören

Wir gratulieren beiden, Stefanie Höfler und Bettina Wilpert, zu Büchern, die unterschiedlicher nicht sein könnten, aber auch nicht ungewöhnlicher und überzeugender.

Dr. Michael Schmitt ist Redakteur bei 3sat-Kulturzeit. Zusammen mit Ralf Schweikart (AKJ-Vorsitzender) und Prof. Dr. Jan Standke (Vorsitzender der Kritikerjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis) gehört er der Jury der Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien an.

Die Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien werden seit 2010 jährlich vergeben. Sie dienen dazu, deutschsprachige Jugendbuchautoren, die bereits erste überzeugende Titel veröffentlicht haben und eine positive literarische Entwicklung erkennen lassen, in ihrer Position zu stärken. Unabhängig von den Anforderungen des Marktes und unter finanziell gesicherten Lebensumständen ermöglichen sie ihnen, ein nächstes Buchprojekt zu verwirklichen.

Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien

Seit seiner Gründung 1980 engagiert sich der Deutsche Literaturfonds für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Neben seinen regulären Förderschwerpunkten bemüht er sich um die Jugendliteratur.
Mit seinem Expertenwissen in Sachen Jugendbuch und mit seiner Erfahrung rund um den Deutschen Jugendliteraturpreis unterstützt der Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ) das Engagement des Deutschen Literaturfonds und vergibt mit ihm gemeinsam die Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien.

Stipendien – für wen und warum?

Die Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien werden seit 2010 jährlich vom Deutschen Literaturfonds und vom AKJ vergeben. Sie sind gedacht für Autoren von Jugendbüchern, die bereits erste überzeugende Titel veröffentlicht haben und eine positive literarische Entwicklung erkennen lassen, sich aber bisher keine starke Marktposition erarbeiten konnten. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, ein nächstes Buchprojekt unabhängig von den Anforderungen des Marktes und unter finanziell gesicherten Lebensumständen verwirklichen zu können. Beide Preisträger erhalten ein jeweils sechsmonatiges Stipendium in Höhe von 12.000 Euro. Sowohl der Deutsche Literaturfonds als auch der AKJ möchten damit die aktuelle deutschsprachige Jugendliteratur fördern und unterstützen.

Das Auswahlverfahren ist an den Deutschen Jugendliteraturpreis angebunden. Eine Bewerbung um ein Stipendium erfolgt automatisch durch die Einreichung eines deutschsprachigen Jugendbuchs für den Deutschen Jugendliteraturpreis.

Alle deutschsprachigen Originalausgaben der Sparte Jugendbuch werden von einer unabhängigen Jury geprüft. Übersetzungen sowie Einreichungen in anderen Sparten finden keine Berücksichtigung. Ausschlaggebend für die Vergabe der Stipendien-Preise ist allein die literarische Qualität der zu prüfenden Jugendbücher. Die Entscheidung für die Stipendiaten fällt unabhängig davon, ob die Autoren für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert sind.
Informationen zur aktuellen Ausschreibung finden Sie unter: https://www.jugendliteratur.org

Der Jury 2019 gehören Ralf Schweikart (Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur), Prof. Dr. Jan Standke (Vorsitzender der Kritikerjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis) und Dr. Michael Schmitt (3sat/Kulturzeit) an.

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